Was heisst „im Einklang mit der Natur“ leben? Über diese Frage stritten sich letzthin im Tages-Anzeiger zwei Journalisten. Die Debatte – stellvertretend für viele ähnliche – zeigt wie nutzlos der Begriff „Natur“ für politische Entscheidungen doch ist.
Daniel Wiener, Verwaltungsrat des Beratungsunternehmens für nachhaltige Entwicklung Ecos, feierte das Klimaabkommen von Paris als einen Abschied des Menschen von der Natur. Die „Masslosigkeit des Menschen“ sei der natürliche Zustand, in dem sich auch der Hai unter Beutefischen und das Bakterium in seinem Wirt befänden. Internationale Abkommen zur Ökologie würden „den nächsten Emanzipationsschritt der Menschen nach der Französischen Revolution“ markieren – was positiv zu verstehen ist.
Ganz anders sieht dies Andreas Moser, Redaktionsleiter der SRF-Fernsehsendung „Netz Natur“. Obwohl Moser Wieners Meinung zum Klimaabkommen wahrscheinlich teilt, hat für ihn die Loslösung von der Natur – hier im negativen Sinne – bereits 10’000 Jahre früher begonnen, als die Menschen den Ackerbau erfanden. Seither herrsche der respektlose „Materialismus und Egoismus“ unter den Menschen. Die moderne Biologie zeige, dass bei Tieren eine „soziale Geburtenkontrolle“ und „weitere Kontrollmechanismen“ spielen, ja selbst die Raubtiere würden nur kranke und schwache Individuen an der Fortpflanzung hindern.
Alle, die nicht gleich voller Emotionen in die Debatte einsteigen und lieber einen Schritt zurück machen, merken selbstverständlich sofort, dass die beiden Kontrahenten einen völlig anderen Begriff von der Natur haben. Ihre Debatte ist schon mindestens 350 Jahre alt. Die Gegenpositionen hielten damals die Philosophen Thomas Hobbes („Der Mensch ist ein Wolf für den Menschen“) und Jean-Jacques Rousseau („Zurück zur Natur“).
Es ist ermüdend, wenn immer und immer wieder von der Natur gesprochen wird, als ob wir alle wüssten, was damit gemeint ist. Ist ein bestellter Acker noch Natur oder doch schon Kulturlandschaft? Darf der Gesang des Vogels zur Markierung seines Territoriums mit einem Schlagbaum an einer Landesgrenze verglichen werden? Was ist natürlicher: eine konzentrierte Stadt neben einem Naturpark oder ein Bauerndorf, das sich über die gleiche Fläche verteilt? Diese Fragen sind unwichtig, weil es nicht darum geht, welchen Naturbegriff wir benützen, sondern in welcher Welt wir leben wollen.
Ob wir unser Leben als im Einklang mit der Natur oder von ihr emanzipiert definieren, sagt so gut wie gar nichts darüber aus, ob wir für oder gegen eine Reduktion des Ausstosses von Kohlendioxid sind und ob wir dazu bereit sind, dafür an unserem Lebenswandel etwas zu ändern. Beim Klimaabkommen geht es nicht um Einklang und Emanzipation, sondern ganz handfest darum, wer zahlt wofür und wie weit wollen wir dafür in die Vergangenheit und in die Zukunft blicken. Das sind die wichtigen Fragen. Allerdings sind sie auch schwierig zu beantworten und es lässt sich nicht so gut um den heissen Brei reden wie bei der Natur.